Mein Blog

Gedanken, die die Welt nicht verändern -

 

.... aber ich schreibe sie trotzdem auf. Kleine Essays in loser Reihenfolge über Themen, die mich bewegen

 

Respekt

 

Auszug aus einer Unterhaltung zweier 11-Jähriger: ‚Ein Lehrer hat einige Mädchen ‚Bitches‘ genannt! - Sofort zum Sekretariat! Der wird rausgeschmissen und fertig!‘ Ob eine Überprüfung dieser Aussage stattfand, wurde nicht thematisiert.


Einerseits ist es natürlich begrüßenswert, dass unsere Kinder nicht mehr wie wir früher in Ehrfurcht vor sogenannten Autoritätspersonen erstarren und sich zu wehren wissen. Andererseits lehren wir sie offensichtlich, in vielen Bereichen weit über’s Ziel hinauszuschießen. Kompromisslose Aggressivität scheint die allseits für angebracht gehaltene Marschrichtung im Umgangston zu sein.
Früher beschimpfte man sich am Stammtisch und riskierte schon mal eine blutige Nase. Heute brüllt man jeden aus der digitalen Deckung heraus an, der einem nicht passt. Endlich kann jeder Idiot im Netz die Wahrheit über sich erfahren. Gerne anonym und ganz ohne blutige Nase. Ganz ohne Gefahr zivilstrafrechtlicher Konsequenzen.

 

Gut so? Wir bringen unseren Kindern bei, wie man sich wehrt? Respektspersonen gibt es nicht? Sind alles nur auf eigenen Vorteil bedachte Egozentriker? Hm. Respektspersonen per se gibt es in der Tat nicht. Respekt muss verdient werden.


Aber was ist mit Polizisten, die jeden Tag ihr Leben auf der Straße riskieren und dafür bespuckt, beschossen und verprügelt werden? Mit Sanitätern, die angegriffen und an ihrer Rettungsarbeit gehindert werden? Was ist mit Gaffern, die sterbende Menschen filmen und das Video in der Hoffnung auf ein paar Likes ins Netz stellen? Mit Lehrern, die sich körperlich gegen ihre Schüler (und deren Eltern!) wehren müssen, die öffentlich verunglimpft und in letzter Zeit samt Unbeteiligten vermehrt erschossen werden? Was mit denen, die sich hämisch die Hände reibend Adressen von Politikern ins Netz stellen? Was mit den Mobbern jedweder Couleur, die ihre Opfer im Netz bloßstellen, bis diese keinen Ausweg mehr sehen (ich erinnere an die Ärztin, die von Impfgegnern in den Freitod getrieben wurde). Was mit denen, die wehrlose Obdachlose verprügeln, foltern oder gar töten? Was mit den Kindern, die andere Kinder quälen und die Videos triumphierend im Klassenchat herumreichen?
Und das alles neben dem täglichen Gewaltpotential gegenüber Schwächeren, das es schon immer gab.

 

Unsere Kinder wehren sich. Das ist richtig und gut. Wir bringen ihnen bei, Personen und deren Aussagen zu hinterfragen. Aber wir lehren sie auch, keinerlei Respekt vor dem Gegenüber zu zeigen. Respekt ist, ebenso wie Empathie und Verantwortungsgefühl, ein Grundpfeiler einer zivilisierten Gesellschaft. Jeder hat das Recht auf seine Meinung, sein Äußeres, seinen Lebensstil, sprich seine Würde, seine kleine persönliche Freiheit, die niemanden etwas angeht. Doch wir lassen das Individuum verkümmern und Vertreter der Institutionen, die wir geschaffen haben, um die soziale Entwicklung und Ordnung aufrechtzuerhalten, zu Prügelclowns verkommen.

 

Personalmangel, Kälte, Werteverlust, Depressionen, Panikattacken, Isolation, Einsamkeit, das sind die Schlagworte unserer Zeit. Die Gegenliste ist kurz: Empathie, Toleranz. Die Nichtüberschreitung von persönlichen Demarkationslinien, die jeder für sich fordert, aber dem anderen nicht mehr zugestehen will. Unsere Gesellschaft ist dabei, einen Begriff zu beerdigen, der neben den Bienen und bunten Schmetterlingen schon länger auf der Roten Liste der Gefährdeten Arten steht: Respekt.

 

 

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